Warum kämpfen wir in unseren Beziehungen?
Teil 1: Prägende Momente
Wer oder was bestimmt eigentlich darüber, wie wir uns verhalten? Wir selbst? Schön wär‘s. Tatsache ist, dass wir alle meist alten Mustern folgen. eine Situation in der Wir reagieren auf Gegenwart, indem wir sie mit bereits gemachten Erfahrungen in unserer Erinnerung abgleichen, und unser Gehirn veranlasst eine Reaktion. Das ist sein Job. Manchmal geht das ganz schnell, ohne Denken: Wir sehen einen Skorpion und springen zur Seite, ehe wir das Wort Skorpion überhaupt denken oder gar bewusst eine Entscheidung treffen.
Je tiefer die Prägung desto nachhatiger
Unser Stammhirn weiß einfach, was zu tun ist und lässt es unseren Körper tun. Das geschieht in Sekundenbruchteilen. Unser Gehirn ist ein Wunderwerk der Natur. Es speichert ei-ne Unmenge Erfahrungen und verknüpft damit bestimmte Entscheidungen. Manchmal speichert es aber auch Dinge ab, die es zuvor mit dem Vermerk „Streng geheim“ versehen hat. Diese prägen uns im Unterbewusstsein.
Prägungen im Unterbewusstsein gehen in die Tiefe. Das liegt in der Natur der Sache. Je tiefer uns etwas prägt, desto mehr Wirkung entfaltet es. Allerdings ist mit zunehmender Tiefe der Abdrücke immer schwieriger zu erkennen, was und wie es uns prägt.
Unser Unterbewusstsein hat die klare Mehrheit
Dort unten, im Keller der Seele, liegen die Prägungen allerdings weder auf der faulen Haut noch in Ketten. Sie entziehen sich nur unserem Bewusstsein und sind somit unbeaufsichtigt. Das gibt ihnen die Möglichkeit, zu tun, was sie wollen. Und sie tun es. Sie prägen unsere Entscheidungen, ohne dass wir es be-merken.
Wer glaubt, er könne dem mit seinem Bewusstsein entgegenwirken, belügt sich selbst. Das Bewusstsein macht nach dem heutigen Stand der Wissenschaft keinen guten Schnitt. Sein Anteil liegt bei schnöden fünf Prozent, den Rest nimmt das Unterbewusstsein in Beschlag. Das sind klare Mehrheitsverhältnisse. Das Unbewusstsein regiert uns, das Bewusstsein darf an den Abstimmungen teilnehmen. Mehr nicht.
Jeder von uns hat eine Menge prägender Moment erlebt. In der Regel haben sie eher selten mit Wertschätzung und Anerkennung zu tun. Leider auch nicht in unserer Kindheit, in der wir gerade das am Nötigsten brauchen: Wertschätzung und Anerkennung. Stattdessen erleben wir in unterschiedlichem Maße ein breites Spektrum, das von psychischer bis zu kör-perlicher Gewalt reicht.
Wir sind Marionetten unserer Vergangenheit
Die Auswahl ist groß: Kritik, Zurechtweisung, Enttäuschung, Blamage, Verachtung, Verlassen werden, Liebesentzug, Schläge oder auch Missbrauch. Keiner kommt ungeschoren davon. Erfahrungen dieser Art sind Teil unseres Le-bens, ob wir wollen oder nicht. In der Regel wollen wir nicht, und wir wollen auch nicht daran erinnert werden. Das sind die Erfahrungen, die wir tief unten im Keller der Seele la-gern, und die mit dem schlimmen Erlebnis verbundene Entscheidung legen wir dazu.
Weil wir sie aber tief unten im Keller der Seele lagern und im Grunde nichts mehr von ihnen wissen wollen (denn gerade deshalb haben wir sie dort abgelegt), sind sie immer noch gültig und prägen unsere Gegenwart, obwohl sie aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit stammen. Deshalb ist der Gedanke, wir würden selbst über uns entscheiden, nichts als eine Illusion. Schon vergessen? 95 Prozent all unserer Erinnerungen sind unbewusst. Im Kel-ler lagert jede Menge alter Kram, der unser Leben bis heute prägt.
Wir sind Marionetten und hängen an Schnüren, die weit in unsere Vergangenheit reichen. Und so hampeln und strampeln wir und tun alles, um nur ja nicht das zu fühlen, was wir uns seit damals nicht mehr erlauben: Ärger, Angst, Trauer und sogar Freude.
Der erste prägende Moment: Unsere Geburt
Der erste prägende Moment für jeden von uns (zumindest wenn der Schwangerschafts-verlauf normal war) ist die Geburt. Schon die Art und Weise, wie wir auf die Welt kommen, prägt uns. Ein Kaiserschnittkind hat eine ganz andere Erfahrung gemacht, als ein Kind, das sich durch den engen Geburtskanal gepresst hat. Beim einen ist der plötzliche Schock von eng auf weit, von warm zu kalt, von dunklem zu grellem Licht.
Beim anderen Baby ist es die Erfahrung von Enge, Druck und für einen (hoffentlich) kurzen Moment die Atemnot. Egal, wie die Geburt war und egal, wie sanft sie vonstattenging, es ist eine heftige Erfahrung und prägt uns schon dahingehend, dass das Leben wohl eine ganz schön anstrengende Sache sein muss.
Was das alles mit unseren Beziehungen zu tun hat? Sehr viel. Jede Erfahrung, die wir machen, jeder prägende Moment, lässt uns Entscheidungen treffen und Glaubensätze erschaffen. Und einige davon sind sehr destruktiv. Denn oft hören wir in den prägenden Momenten die Botschaft:
„Du bist nicht o.k.“
Wie die Glaubensätze entstehen
Stellen wir uns das zweijährige Kind vor, das im Matsch spielt. Die kleinen Hände kneten genüsslich Pampe, die dann hingebungsvoll in den Haaren verteilt wird. Dieses Kind empfin- Genuss und Freude – aber nicht lange. Denn die aufbrausenden Eltern machen mit einem lauten Aufschrei und Geschimpfe diesem genüsslichen Treiben ein jähes Ende. Und schon haben wir einen prägenden Glaubenssatz:
„Es ist nicht o.k., glücklich zu sein.“
Oder das fünfjährige Mädchen, dass voller Leidenschaft der Mama beim Putzen helfen will, beim Ausräumen der Spülmaschine die teure Salatschüssel zu Bruch gehen lässt und dafür gehörig ausgeschimpft wird. Schnell wird für dieses Kind klar:
„Ich kann es nicht“.
Oder der kleine Junge, der sich so wahnsinnig anstrengt beim Fußball spielen, aber rein körperlich und motorisch einfach nicht mit den anderen mithalten kann. An sich kein Problem, aber er wird ausgelacht und verspottet und lernt:
„Ich bin nicht gut genug.“
Egal, welche Erfahrungen wir machen: Sie reichen von der Verbannung ins Zimmer oder auf die stille Treppe, über Bloßstellung in der Schule bis hin zu sexuellem, körperlichem und emotionalem Missbrauch. Das Problem ist nur, dass unser Verstand diese Erfahrungen verallgemeinert und „Ich kann es nicht“ eben nicht nur auf den kleinen Fußballer beziehungsweise auf das 5-jährige Mädchen bezieht, dem die Schüssel zu schwer war, sondern auf das gesamte Leben. Mit jedem prägenden Moment entwickeln wir Glaubenssätze. Die können lauten:
Ich bin wertlos. | Ich bin dumm.
Ich kann nichts. |Ich bin nicht gut genug.
Ich bin schuld.| Ich bin falsch, so wie ich bin.
Ich bin schlecht.
Wie auch immer sie lauten, alle transportieren die gleiche Botschaft:
„Ich bin nicht o.k.“
Mit diesen Augen sehen wir die Welt und unser Verstand, der für die Verwaltung dieser Glaubensätze zuständig ist, findet immer und überall neue Beweise, um sie zu untermauern. Reichlich Futter für die ohnehin vorhandenen Glaubenssätze findet der Verstand in unseren Beziehungen. Das bedeutet: Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn wir unser Kampfmittel auspacken und mit unserem Partner ins Drama gehen, geht es um einen unserer versteckten
Glaubenssätze.
Es dreht sich bei unseren Kämpfen in den meisten Fällen eben nicht um die Zahnpastatube, um Pünktlichkeit, um das Einräumen der Spülmaschine, sondern darum, dass wir uns nicht wertgeschätzt fühlen, wenn unser Partner die Tube offen liegen lässt. Und es geht darum, dass wir uns falsch fühlen, wenn unser Partner uns mal wieder erklärt, wie man Auto fährt.
Diese Glaubenssätze in uns wahrzunehmen, ist schmerzhaft. Wer konfrontiert sich schon gerne mit den negativen Dingen, die er über sich denkt. Und deshalb kämpfen wir lieber weiter auf den Nebenschauplätzen der Kleinigkeiten, ohne die wichtigste Frage überhaupt zu stellen: Worum geht es wirklich?
Wir suchen den passenden Partner
Zugegeben, das alleine als Paar herauszufinden, ohne Rückmeldung von außenstehenden Personen, ist so gut wie unmöglich. Wichtig ist es dennoch. Interessanterweise sind wir genau mit dem Partner verheiratet, der brillant darin ist, unsere Glaubensätze zu bestätigen: Jemand mit dem Glaubenssatz „Ich bin nie gut genug“ hat so gut wie immer einen Partner an der Seite, der das Kampfmittel „Nörgeln und Meckern“ liebt.
Jemand mit dem Glaubenssatz „Ich bin nichts wert“ ist oft mit jemand zusammen, der gerne Recht hat und sich auch gerne rechtfertigt.
Jemand mit dem Glaubenssatz „Ich bin schuld“ hat mit ziemlicher Garantie einen brillanten Könner des Kampfmittels „Beschuldigen“ an seiner Seite.
Jemand mit dem Glaubenssatz „Ich bin falsch“ ist mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit mit einem Rechthaber verheiratet.
Warum das so ist? Eigentlich klar. Wir suchen unbewusst Beweise für unsere Glaubensätze.
Oder anders gesagt: Unsere Welt und unsere Beziehungen sind exakt so, wie wir glauben, dass sie sein sollten. Darin liegt die einmalige Chance, die uns unsere Partnerschaft bietet:
Wir können unsere Krisen und Konflikte nutzen, um mehr über uns selbst und unsere Glaubensätze zu lernen. Es ist das ideale Umfeld, um sich bewusst zu machen, was mich prägt und mit welcher Brille ich mein Leben sehe. Um das zu tun, müssen wir die Verantwortung übernehmen. Wir müssen durchschauen, was wir mit unseren Kampfmitteln wirklich schützen und endlich aufhören, den anderen dafür verantwortlich zu machen, dass unser Leben so läuft, wie es läuft und unsere Beziehung so ist, wie sie ist.
Wir nehmen uns selbst immer mit
Oder wir geben uns auf und trennen uns einfach, wie so viele andere Paare auch. Mittlerweile ist das mehr als normal. Wir sollten uns nur über eines im Klaren sein: Wir nehmen uns selbst mit.
Auch in eine neue Partnerschaft. Am Anfang, weil das eben das Herz noch das Sagen hat, sieht alles ganz anders und sehr rosig aus. Aber eines ist garantiert:
Der Verstand wird seine Beweise finden. Vielleicht ändern sich die Kriegsschauplätze, und wir kämpfen nicht mehr um die Zahnpasta-Tube.
Dafür verlagert sich das Ganze auf das Autofahren oder das abendliche Fernsehprogramm.
Wir werden immer ein Thema finden, bei dem wir unsere Kampfmittel zücken können. Der Partner an unserer Seite ist da austauschbar.
Aber wir können auch bleiben und die Krisensituationen nutzen, um uns selbst bewusst werden zu lassen darüber, wer wir wirklich sind, was uns prägt und wie wir funktionieren. Das bietet die Chance für Veränderung und dient vor allem unserer eigenen Transformation.
Dadurch ergibt sich die Chance für eine neue Art der Beziehung. Die gute Nachricht: Es reicht, wenn einer damit anfängt.
Wenn uns bewusst ist, dass wir letztendlich nur mit uns selbst kämpfen, können wir anfangen zu lieben.
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